Vom Fallen und Fliegen – mein persönlicher Jahresrückblick

Der Wind weht über meine nassen Wangen, meine Lippen zittern immer noch vor Aufregung. Ich hole tief Luft, schließe meine Augen, die Welt dreht sich, doch ich stehe still. In meiner rechten Hand halte ich ein feuchtes Taschentuch, in der linken Hand zwei Stück Papier. Auf dem einen steht ein ärztlicher Rat geschrieben, dass andere Blatt ist eine Überweisung zur Therapie. Ich fühle mich leer und verlassen und frage mich wie es denn so weit kommen konnte. Doch meine Mundwinkel zeigen auch ein bisschen nach oben, ein kleiner Wink zur Freude und Erleichterung und auch Hoffnung, dass dieser Arztbesuch Besserung bringt. Ein vorgezogenes Geschenk für mich, es ist vier Tage vor Weihnachten.

Die Monate vor diesem Arztbesuch waren nicht von Leichtigkeit und Freude geprägt. Es fing mit schlechter Laune, plötzlichen Stimmungsschwankungen und Wutausbrüchen an. Ich schob immer alles schön auf den fraulichen Zyklus und die Hormone. Nahm die Gefühlsschwankungen nicht ernst. Neben den psychischen Auffälligkeiten kamen auch physiologische dazu. Sommergrippe, Migräne, Magen-Darm, Halswirbelprobleme und sonstige Wehwehchen, die mich immer wieder in das Arztzimmer brachten. Meinem Arzt kam das alles irgendwie komisch vor, war ich davor selten bis nie krank gewesen und auch eigentlich kein Mensch, der einfach so krankmacht. Es folgten viele Gespräche und irgendwann kamen wir der Ursache für meine vielen Leiden näher.

Alles um mich herum war laut

Es war mein alter Job der mich krank machte. Und die Angst etwas Altes zu beenden und was Neues zu beginnen. Ich schob die Entscheidung über Monate vor mich her und die Situation spitze sich zunehmend immer mehr zu. Hatte Angstzustände und plötzliche Panikattacken, ständig das Gefühl von Überforderung und Überlastung obwohl ich nicht mehr als sonst arbeitete. Ich isolierte mich, war weniger unterwegs als sonst, meidete Kaufhäuser und Menschenansammlungen. Alles war auf einmal viel lauter in meinem Kopf, die Straßengeräusche, das piepsen von der U-Bahn, die Kassaklingel beim Edeka. Es kostete enorm viel Kraft und Energie mich mit Leuten zu unterhalten, selbst wenn es sich dabei um die engsten Freunden handelte. Ich wusste nicht was mit mir los ist und das machte mir Angst.

In dieser Zeit stieß ich auf viel Gegenwind. Da ich nicht wusste was mir fehlte und meinem Umfeld auch nicht mitteilen konnte was ich möchte, hab ich entweder alle Einladungen pauschal abgesagt oder bin mit unruhigem Gefühl hin, um dann mit totalem Herzrasen wieder nach Hause zu fahren, weil mir doch alles zu viel und zu laut war. Meine Freunde waren verwirrt, teilweise auch verärgert, da ich mich zum Teil verrückt und egomanisch verhielt. Ich konnte Versprechen nicht einhalten, als Gesprächspartner war ich unbrauchbar und auch sonst hatte man keinen Spaß mehr mit mir, weil ich einfach leer war und nichts mehr fühlte.

Dieser Arztbesuch kurz vor Weihnachten war Höhepunkt und tiefster Fall in einem. Es tat gut endlich eine Diagnose für diese ganzen Symptome und Zustände zu besitzen. Es half ein wenig es zu akzeptieren und es besser zu verstehen. Auch der ärztlichen Rat zur Kündigung war wie ein Befreiungsschlag. Ich musste mich nicht alleine entscheiden und eine autoritäre Person stand hinter mir und bestärkte mich in der Entscheidung. Doch zeitgleich fiel ich auch in ein tiefes Loch. Denn die Angst vor Veränderung, vor dem was jetzt kommen mag, war ja immer noch da.

Tagelang lag ich oft im Bett ohne mich zu rühren. Die Frage meines Mitbewohners, ob ich denn Suppe oder Pizza möchte, bescherte mir tränenreiche Momente, weil ich selbst die einfachsten Dinge für mich nicht mehr entscheiden konnte. Fernsehen, lesen oder Musik hören war mir alles zuviel – ich wollte einfach nur liegen und in der Stille sein. Das ging einige Wochen so. Bis mich die Bürokratie des arbeitslos sein und auch der Therapiebeginn wieder in die Realität hinaus zerrte. Anfangs war es die Hölle, doch von Woche zu Woche merkte man kleine Veränderungen, Erleichterungen im Alltag. Irgendwie ging es immer weiter, mit Gesprächstherapie und meinem starkem Willen. Dem Willen, der JA sagte zum Leben und zur Veränderung.

Ein Jahr voller Veränderungen – Zeit für einen Jahresrückblick

Es ist jetzt ein Jahr her, dass ich die Diagnose erhielt und meinen alten Job kündigte. In diesem Jahr ist so vieles passiert, es ist unmöglich das alles in Worte zu fassen. Es gab viele Hochs und Tiefs, habe viel geheult aber auch anschliessend wieder viel gelacht. Ich hab neue Sportarten für mich entdeckt, hab es endlich geschafft Bücher zu Ende zu lesen und auch mal eine Woche ohne Handy verbracht. Ich war viel zu Besuch in meiner Heimat Österreich, meine Familie und Freunde haben sich gefreut wie ein Schnitzerl und sich fast schon wieder zu sehr an mich gewöhnt. Dabei muss ich zugeben, dass ich wirklich daran gedacht habe, alle Zelte abzubrechen in Berlin, weil es hier Anfang des Jahres nicht mehr viel gab, was mir wirkliche Freude bereitete und mich erfüllte. Aber ich habe es nicht gemacht, denn es hätte sich für mich wie eine Flucht angefühlt und vermutlich wäre es mir nach ein paar Wochen in Österreich wieder genauso ergangen wie in Berlin.

Also hab ich gekämpft – um mich – für mich. Bin in Berlin geblieben – habe es sogar geschafft mich wieder komplett neu in die Stadt zu verlieben. Und das, obwohl es mittlerweile nicht nur mehr positives und euphorisches in meiner Berliner Welt gibt – sondern auch die Erinnerung an die Momente voller Trauer, Wut, Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Doch es ist wieder meine Stadt geworden, mit all ihren Ecken und Kanten. Mit guten und schlechten Erinnerungen an jeder Strassenecke. Denn Trauer gehört zum Leben dazu, genauso wie die Freude. Es ist ok, wenn man mal traurig ist, aber wenn der Zustand zu lange andauert und dich irgendwie lähmt, sollte man mit sich trauen sich Hilfe zu suchen. Ich selbst hätte nie gedacht, dass ich so tief fallen könnte, bin ich doch durch und durch als Optimist und Freigeist bekannt.

Rückblickend betrachtet überwiegt in diesem Jahr trotzdem das Positive das Negative. Beruflich haben sich viele Neuerungen und Überraschungen aufgetan, ein toller Job bei Mit Vergnügen mit noch tolleren Menschen, der in die anschliessende Selbstständigkeit führte. Hätte mir heute vor einem Jahr jemand gesagt, dass ich in einem Jahr freiberufliche Fotojournalistin sein werde, ich hätte ihn vermutlich ausgelacht. Aber auch privat hat sich einiges geändert. Ich bin viel sensibler, feinfühliger geworden und auch mein Körper sagt nun viel öfter Stopp zu mir als sonst. Ich höre mehr auf meinen Bauch und meide nach wie vor Menschenansammlungen, da diese Enge in der Brust immer noch da ist, wenn mir etwas zu viel oder zu laut wird. Erst diese Woche fragte mich meine Therapeutin, ob ich denn noch weiter kommen wolle – ich müsse nicht mehr, ich kann aber. WOW. Da war ich schon ein bisschen sehr stolz auf mich, dass ich es doch irgendwie aus diesem Teufelskreis raus geschafft habe. Das sich der harte Weg am Ende gelohnt hat. Also bleibt mir jetzt nichts mehr weiter zu sagen als DANKE.

Zeit um DANKE zu sagen

Danke an all die wunderbaren Menschen in meinem Leben, die im letzten Jahr so sehr für mich da waren. Die meine Tränen getrocknet, mich zum Lachen gebracht oder mich einfach ganz fest in den Arm genommen haben. Die mir es nicht übel nahmen, wenn ich mal nicht so perfekt, pünktlich oder verlässlich war wie gewohnt. Danke an all die Fehler die ich machen durfte und die neuen Erfahrungen, die ich dadurch sammelte. An all meine guten alten Freunde und auch die vielen Neuen die ich kennenlernen durfte. An all die Jobs die ich machen durfte und das entgegengebrachte Vertrauen in meine kreative Arbeit. Ich könnte im Moment nicht glücklicher sein und ich bin froh, dass ich mich vor einem Jahr für das kämpfen und nicht für das aufgeben entschieden habe. Ich bin davon überzeugt, dass das Leben schon einen Plan für jeden einzelnen für uns hat – man muss nur darauf vertrauen, dass alles so kommt wie es soll. #staystrong