Ein grünes Niemandsland ohne Regeln und Gesetze – Zu Besuch im Baumhaus am Bethaniendamm

Zuerst erschienen auf: www.mitvergnuegen.com | Datum: 26.09.2017

In Zeiten von Gentrifizierung und Bebauung aller Brachflächen sehnt man sich immer mehr nach ein bisschen Freiheit in der Stadt. Das wilde Berlin, so wie es nach dem Mauerfall war, existiert nicht mehr. Viele wünschen sich ein Niemandsland, ein kleines Fleckchen Erde ohne Regeln und Gesetze. Und obwohl Peter Pan immerzu predigte, dass das Niemandsland ein Geisteszustand ist, wär so ein kleiner versteckter Zauberort mitten in Berlin doch genau das, was sich viele wünschen. Und genau den hab ich gefunden. Mitten in Kreuzberg, am Bethaniendamm, auf einer ehemaligen dreieckigen Verkehrsinsel.

Von der Verkehrsinsel zum grünen Kleinod

Als ich beim Baumhaus ankomme, sitzt Osman Kalin in einem Plastikstuhl in seinem Garten. Stolz lächelt er und winkt mir zu. Da er kein Deutsch spricht und ich kein Türkisch, bleibt unsere Konversation im Zaun stecken und reduziert sich auf Lächeln und fotografieren.

Während ich auf seinen Sohn Mehmet warte, gehe ich eine kleine Runde um das Baumhaus, dass eigentlich mit seinen zwei Stockwerken schon mehr ein richtiges Haus ist. Richtig farbenfroh ist die Fassade, der Garten grün und wild. Das Haus ist eine bunter Mix aus gesammelten Materialien und im gesamten ein großes Kunstwerk. Ich kann es kaum erwarten, die Geschichte rund um Osman und sein Baumhaus zu hören.

Mehmet kommt ein wenig gestresst über die Straße, hat aber trotzdem ein Lächeln auf den Lippen. „Ich war gerade einige Wochen in der Türkei, wieder viel zu tun hier in Berlin“, informierte er mich und öffnete mir die Tür ins Niemandsland.

Osman steht mit Hilfe von seinem Sohn vom Stuhl auf und reicht mir die Hand. Mit seinen mehr als 90 Jahren wirkt er sehr gesund, obwohl das Alter seine Knochen müde gemacht hat. „Mein Vater hat immer sehr auf seine Gesundheit geachtet, immer gesund gegessen. Das ist auch der Grund warum hier dieses Baumhaus steht.“ Jetzt bin ich gespannt und Mehmet erzählt mir die Geschichte seines Vaters.

Zwischen West und Ost ohne Regeln und Gesetze

„Mein Vater verließ 1964 mit mir und meinen Geschwistern unsere Heimat Zentralanatolien, um in Österreich Strommasten zu bauen. Danach folgten mehrere Umzüge in Österreich und Deutschland, bis wir schlussendlich 1980 in Berlin ankamen. Wir haben immer schon auf der anderen Straßenseite vom Baumhaus gewohnt, da war diese Fläche noch eine vermüllte Verkehrsinsel, direkt an der Mauer. Mein Vater vermisste die Natur und seinen Gemüsegarten in Anatolien, also ging er einfach mal eines Tages rüber, räumte die Fläche auf und pflanzte Gurken und Knoblauch. Die Insel lag zwar auf der Westseite, gehörte aber zum DDR-Staatsgebiet – das war großes Glück für uns, den keiner fühlte sich zuständig und so konnte mein Vater weiter gärtnern, ohne groß gestört zu werden.“

Kein Strom, kein Abfluss, kein Trinkwasser

Als 1989 die Mauer fiel, fing Osman an eine Hütte zu bauen und irgendwann entstand daraus dieses zweistöckige Haus mit Betonfundament. Bis 1994 hat es gedauert, bis sich jemand fragte, wer eigentlich dieser Osman ist und wem dieses Stück Land gehört. Durch viel Glück und gute Kontakte zur naheliegenden St. Thomas Kirche bekam er eine Sondergenehmigung für sein kleines Niemandsland. „Wir haben hier keinen Strom, keinen Abfluss und kein Trinkwasser. Das einzig Legale, wenn man es sehr sehr streng nimmt, ist diese Pumpe im Garten, die ich 2008 gebaut habe, um damit den Garten zu bewässern. Für die habe ich einen Genehmigung.“

Im Bethaniendamm 0

Das Haus an sich ist sehr rustikal, bunt und mit vielen Details versehrt. Das Obergeschoss besitzt ein Sommer- und ein Winterzimmer, wo Mehmet und seine fünf Kinder oder auch Mehmets Geschwister öfters übernachten. Zwei Balkone bieten Sicht auf die St.Thomas Kirche und die Hochhäuser am Bethaniendamm. Es knarrt und knirscht unter meinen Füßen.

Im Erdgeschoss befinden sich eine Abstellkammer, eine Werkbank, eine Toilette und ein großer Raum, der zum Garten offen ist. „Wir haben hier schon viele Feste gefeiert, das Baumhaus ist zu unserem Familientreffpunkt geworden, Papa hat uns immer wieder alle zusammengebracht. Da das ja kein offizielles Grundstück ist, haben wir auch keine Adresse. Ich habe uns die Adresse Bethaniendamm 0 gegeben, aber die Karte die ich schickte, kam leider nie an.“, schwelgte Mehmet in Erinnerungen. „Mein Vater sagte immer, dass es ein Niemandsland ist, ich sage heute, es ist ein Jedermannsland!“ Tolle Worte, tolle Geschichte. Danke Familie Kalin für diesen kleinen Zauberort in Berlin, der uns weiterträumen lässt.

Mein Vater sagte immer, dass es ein Niemandsland ist, ich sage heute, es ist ein Jedermannsland.